Selbstorganisierende Erkenntnis
Heinz von Foerster

Inhalt

Prolog

Heinz von Foerster war einer der bedeutendsten Vertreter der Denkschule des Konstruktivismus. Er gilt als einer der Mitbegründer des Radikalen Konstruktivismus, wonach die Realität nicht entdeckt, sondern von uns Menschen konstruiert wird.

Seine grundlegende Annahme ist, daß jede Erkenntnis als Konstruktionsprozeß verstanden werden kann und die Wirklichkeit das Produkt dieses Prozesses darstellt. Die Wirklichkeit wird also nicht gefunden, sondern von einem Beobachter operativ erfunden.

Nach konstruktivistischer Auffassung ist demnach Wahrnehmung kreativ: Sehen bedeutet Farben zu erfinden, hören, Töne zu kreieren und riechen, Düfte zu schaffen. Die Eigenschaften wahrgenommener Objekte entstehen aus der Art und Weise, wie wir unsere Sinnesorgane interpretieren. "Alles lebt, es spielt Musik, es gibt Farben, Gerüche, Klänge und eine Vielzahl von Empfindungen. Aber all dies sind konstruierte Relationen; sie kommen nicht von außen, sie entstehen im Innern." (Heinz von Foerster im Gespräch mit Bernhard Pörksen)

Das Ziel von Erkenntnis und Wissenschaft ist demnach keine "wahrheitsgetreue" Vorstellung der ontologischen Welt, sondern das Erfinden einer Welt, die viabel für zielstrebiges Handeln ist.

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I Die Kybernetik der Kybernetik

Heinz von Foerster zeigte der Kybernetik den Weg aus der Regelungstechnik zu einer Kybernetik zweiter Ordnung (second order cybernetics), die in der Soziologie von Niklas Luhmann aufgegriffen und ausgebaut wurde.

Der Begriff Kybernetik wurde von Norbert Wiener im Jahre 1948 geprägt. Die Kybernetik betrachtet Regelungszusammenhänge und Nachrichtenübertragungen in Lebewesen und Maschinen. Das grundlegende Prinzip ist dabei die Zirkularität. "Die Kybernetik erster Ordnung trennt das Subjekt vom Objekt, sie verweist auf eine vermeintlich unabhängige Welt 'da draußen' ". (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, S. 114f.)

Die Kybernetik zweiter Ordnung beschäftigt sich dagegen mit Systemen, die ihrerseits Beobachtungen durchführen. Dadurch wird die Beobachterabhängigkeit des Erkennens thematisiert. "Man lernt sich als einen Teil der Welt zu verstehen, die man beobachten will." (ebd.)

Heinz von Foerster wies immer wieder auf die "blinden Flecken" des Beobachters hin, der sich vermeintlich unabhängig dem Objekt der Beschreibung nähert. Er hat also den erkenntniskritischen Zweifel in die Kybernetik eingeführt.

Die fundamentalen Themen der Kybernetik zweiter Ordnung sind die Selbstreferenz und die Geschlossenheit. Dies verdeutlicht von Foerster anhand seiner inzwischen berühmt gewordenen Unterscheidung zwischen trivialen und nichttrivialen Maschinen.

"Eine triviale Maschine ist durch eine eineindeutige Beziehung zwischen ihrem 'Input' (Stimulus, Ursache) und ihrem 'Output' (Reaktion, Wirkung) charakterisiert. Diese invariante Beziehung ist 'die Maschine'. Da diese Beziehung ein für allemal festgelegt ist, handelt es sich hier um ein deterministisches System; und da ein einmal beobachteter Output für einen bestimmten Input für den gleichen Input zu späterer Zeit ebenfalls gleich sein wird, handelt es sich dabei auch um ein vorhersagbares System". (Wissen und Gewissen, S. 206f.) Eine triviale Maschine verwandelt demnach einen Input x zu einem Output y. Man kann beispielsweise an eine addierende Rechenmaschine denken, die bei Eingabe der Zahlen 2 und 5 das Resultat 7 ausgibt.

Die nichttriviale Maschine unterscheidet sich von der trivialen Maschine dadurch, daß sie eine interne Zustandsänderung vornehmen kann. Je nach Eingabe x und/oder Ausgabe y kann sich ihr Zustand ändern. Die Operationen einer nichttrivialen Maschine hängen von ihren internen Zuständen ab. Das Funktionieren dieser Maschine wird damit unvorhersagbar, denn ein Output y, der nach einem einmaligen Input x beobachtet worden ist, muß nicht noch einmal beobachtet werden, wenn der gleiche Input x wiederverwendet wird.

Beispielsweise könnte die obige Rechenmaschine nach Ausgabe der Zahl 7 in den Multiplizier-Zustand wechseln und nach neuerlicher Eingabe der Zahlen 2 und 5 nun als Ausgabe 10 ermitteln.

Diese Unterscheidung zwischen trivialer und nichttrivialer Maschine birgt eine Brisanz: Beobachtungen von Wissenschaftlern, aus denen sich die Naturgesetze ableiten, sind stets geprägt durch das Ursache-Wirkung-Prinzip, mithin durch die triviale Maschine. Von Foerster verdeutlicht in seinen Schriften jedoch, daß natürliche Phänomene eher einer nichttrivialen Maschine ähneln. Existiert beispielsweise die Gravitation tatsächlich oder ist sie lediglich ein Erklärungsprinzip? Derlei Fragen nach der Entstehung von Erkenntnis verstand von Foerster wie kein anderer aufzuwerfen.

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II Selbstorganisation und Erkenntnis

Heinz von Foerster verfolgte stets die Idee, Einsichten der Kybernetik, speziell der Kybernetik zweiter Ordnung, in andere wissenschaftliche Disziplinen hineinzutragen und die Möglichkeiten dieser Einzeldisziplinen zu nutzen, um die Kybernetik selbst weiterzuentwickeln. Die systemtheoretischen und kybernetischen Beiträge und Ausführungen von Foersters stellen immer auch die Frage nach der Transdisziplinarität der Wissenschaften trotz ihrer arbeitsteiligen Spezialisierung.

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Basis zur Verständigung zwischen den Wissenschaftsbereichen interessiert sich von Foerster für die Selbstorganisationstheorie. Die Selbstorganisation wurde zum zentralen Begriff seiner systemischen Anschauung des Lebens.

Selbstorganisation ist "das Phänomen, daß bestimmte geschlossene Systeme nach einer gewissen Zeit stabile Formen des Verhaltens entwickeln." (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügner, S. 92) Ein Vorgang also, bei dem Strukturen nicht von außen vorgegeben, sondern durch das System selbst erzeugt werden und zielgerichtet eine Ordnung hervorrufen. Diese Ordnung kann einerseits aus Ordnung selbst (Schrödingers "order from order"), andererseits durch Selbstorganisation verbunden mit Störungen (von Foersters "order from noise") entstehen. Die Selbstorganisation entwickelt sich dabei aus bestimmten Anfangs- und Randbedingungen spontan, und das System nimmt einen spezifischen Zustand oder eine Folge von Zuständen ein.

Ein einfaches Beispiel liefert von Foerster hierzu: "Man nehme ein paar kleine Würfel, auf die magnetische Folien aufgeklebt werden und die, was ihr Gewicht betrifft, gerade noch schwimmen können. Diese Würfel setzt man in einen Behälter mit Wasser, beginnt ein bißchen zu schütteln, führt ihnen ungerichtete Energie zu, erzeugt noise in ihrer Umwelt, induziert eine Störung. Zu Beginn driften die Würfel amorph durch die Gegend, aber mit einem Mal fangen sie an, sich zu kombinieren, sie entwickeln die tollsten Strukturen, die schönsten Kristalle und die faszinierendsten Klumpen. Ihre jeweilige Struktur ist eine innere, die sich aber durch eine Störung - in diesem Fall: das Schütteln - realisiert. Ordnung importiert das System also nicht aus der Umwelt, sondern es ist eine ungerichtete Zufuhr von Energie, die in das System integriert und dazu benützt wird, eine eigene innere Ordnung auszubilden." (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügner, S. 93)

Wenn nun das Gehirn als geschlossenes System betrachtet wird, muß Kognition also ein konstruktiver Prozeß sein: Es sind nicht äußere Einflüsse, die den Zustand des Hirns ändern, sondern konstruierte "äußere" Einflüsse.

Einflüsse, die von außen auf das System treffen, werden in einem konstruktiven Wahrnehmungsprozeß interpretiert und bewirken eine Zustandsänderung des Systems. Das Gehirn konstruiert so eine Vorstellung der Umwelt, die vermeintliche Erkenntnis, die wiederum den Beginn einer neuen Rekursion bedingt. "Das Erkennen kommt aus meiner Sicht nicht zu einem endgültigen Ende, sondern stellt vielmehr einen unendlichen und in beständiger Zirkularität ablaufenden Vorgang dar. Kaum habe ich eine Sache erkannt, beginne ich schon wieder, sie zu erkennen." (Wahrheit ist die Erfindung eines Lügner, S. 18)

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Epilog

Dirk Baecker schreibt im Vorwort zu "Wissen und Gewissen": "Wenn es in diesem Jahrhundert so etwas wie eine zentrale intellektuelle Faszination gibt, dann liegt sie wahrscheinlich in der Entdeckung des Beobachters." Er verdeutlicht die Umwälzungen, die diese Entdeckung für die Epistemologie und zugleich für die Physik, die Biologie, die Psychologie oder die Soziologie bedeutete. Sie wurde maßgeblich durch eine Gruppe von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen im Nachgang der berühmten New Yorker Macy-Konferenzen ausgelöst. "Im Zentrum dieser kleinen Gruppe, als ihren Schriftführer zunächst und dann als ihren spiritus rector, findet man Heinz von Foerster." (ebd.)

Von Foerster blieb bis zu seinem Tod 2002 ein freier Denker, wollte sich nicht in philosophische Schubladen stecken lassen. In einem seiner letzten Interviews sagte er: "Heute würde ich den Begriff Konstruktivismus, ehrlich gesagt, eigentlich gerne wieder loswerden. Mich stört das gesamte Vokabular gegenwärtiger Debatten, diese Fixierung auf ein Label und ein Etikett, das man irgendwem anheften kann." (taz vom 7. Oktober 2002)

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Literatur und Quellen

von Foerster, Heinz: Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, Frankfurt am Main (1993).

von Foerster, Heinz; von Glasersfeld, Ernst; Hejl, Peter; Schmidt, Siegfried; Watzlawick, Paul: Einführung in den Konstruktivismus, München (1998).

von Foerster, Heinz; Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Heidelberg (1999).

von Foerster, Heinz: 2x2=grün, CD, Supposé Verlag Köln (1999).

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2005, 46halbe