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[Raum abdunkeln.]
[MUSIK: Bach Präludium c-moll, stehenlassen, dann leiser werdend.]
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Sprecher:
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The Incomputable Alan Turing. Ein Audio-Feature von der Hörspiel-Werkstatt der Humboldt-Universität zu Berlin.
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Erste Szene: Die universelle Maschine
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[Musik wieder lauter werdend, während des ersten Abschnitts ausblenden.]
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Sprecherin:
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Ein Wissenschaftler, dessen Name mit einem Prinzip verbunden ist, kann für alle Zeiten als unsterblich gelten. Es ist dies eine Auszeichnung, die nur ganz wenigen zuteil wird. Der Mathematiker und Logiker Alan Turing gehört durch seine Veröffentlichungen zur Turing-Maschine zu diesen Auserwählten. Joseph Weizenbaum sagte über ihn in den vierziger Jahren:
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Zitator:
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Er hat sympathischerweise doch keine Ahnung, daß er einer ist wie nur die Allererlauchtesten sonst in der Geschichte der Mathematik, wie Euklid, wie Gauß, wie Einstein. Er ist einer der folgenreichsten technischen Revolutionäre seit Erfindung - ich will nicht sagen des Rades, aber doch der Glühbirne.
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Sprecher:
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Der Anfang von Turings mathematischer Karriere fällt in eine Zeit, in der nicht nur die Wirtschaftskrise ihre Schatten auf die Welt warf, sondern auch die Mathematik in ihren Grundfesten erschüttert war.1920 schlug David Hilbert ein ehrgeiziges Forschungsprogramm vor, mit dem Ziel, die gesamte Mathematik zu formalisieren. Hilbert war auf der Suche nach einfachen, aber genauen Regeln, mit denen alles, was wahr ist, auch bewiesen werden kann. Kurt Gödel zerstörte diesen Traum 1931 mit seinem Unvollständigkeitssatz. Er zeigte, daß es in jedem mathematisch sinnvollen Formalismus wahre Sätze gibt, die nicht bewiesen werden können. Hilberts Programm war also zum Scheitern verurteilt. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
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Sprecherin:
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Gerade 25 Jahre alt, veröffentlichte Turing seine Ideen 1937 in dem Artikel
On Computable Numbers. With an Application to the Entscheidungsproblem. Er knüpfte an die Methoden Gödels an und zeigte, daß die Mathematik nicht nur unvollständig ist, sondern auch, daß es im Allgemeinen keine Möglichkeit gibt, zu sagen, ob eine bestimmte Aussage beweisbar ist. Damit vernichtete er eine weitere von Hilberts Annahmen: die Idee von der Berechenbarkeit. Turing selbst erläuterte die Bedeutung seines Resultates so:
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Turing:
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Wenn einem ein Geduldsspiel zum Lösen gegeben wird, fragt man für gewöhnlich den Eigentümer, wenn es sich als schwierig erweist, ob es machbar ist. Eine solche Frage sollte in jedem Fall eine ganz bestimmte Antwort bekommen, nämlich ja oder nein, vorausgesetzt, die Regeln, nach denen man verfahren darf, sind ganz eindeutig. Es ist natürlich möglich, daß der Eigentümer des Geduldsspiels die Lösung nicht kennt. Gleichermaßen könnte man fragen: »Wie kann man sagen, ob das Geduldsspiel lösbar ist?« Aber das kann nicht so geradeheraus beantwortet werden. Tatsache ist, daß es keine systematische Methode gibt, mit der man Geduldsspiele prüfen kann, um zu sehen, ob sie lösbar sind oder nicht.
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Sprecher:
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Um zu zeigen, daß eine systematische Methode tatsächlich nicht existiert, mußte Turing in seiner Schrift jedoch zunächst eine andere Frage beantworten: Ist es möglich, eine imaginäre Maschine zu konstruieren, die all das berechnen kann, was überhaupt berechenbar ist. In der Tat gelang es ihm, eine derartig universelle Maschine zu beschreiben. Weizenbaum kommentierte dies so:
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Zitator:
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Es war einer der größten Triumphe der menschlichen Intelligenz, als Turing beweisen konnte, daß seine Universal-Maschine von 1936 wirklich zu bauen ist und daß er sogar den Weg dazu angeben konnte und daß eine Turing-Maschine in der Lage sein wird, jede beliebige andere Turing-Maschine zu imitieren, also eine universelle ist... In der Mathematik gibt es viele Existenzbeweise. Aber es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man beweisen kann, daß etwas existiert, oder ob man auch in der Lage ist, es zu konstruieren.
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Sprecher:
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Die Idee Turings war einfach, aber genial. In der Mathematik wurde seit Jahrhunderten die Unendlichkeit der Natur hervorgehoben. Im Gegensatz dazu zerlegte er ihre Prozesse in nur endlich viele Schritte und schuf damit die Grundidee für seine Maschine. Die Inspiration für seine Überlegungen griff er aus dem Leben. Er vergleicht die Funktionsweise seiner Maschine mit der eines rechnenden Menschen:
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Turing:
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Rechnungen werden für gewöhnlich in der Weise ausgeführt, daß bestimmte Symbole auf ein Stück Papier geschrieben werden. Wir wollen annehmen, daß dieses Stück Papier kariert ist, wie das Rechenheft eines Kindes. Ich werde außerdem unterstellen, daß die Anzahl der Symbole, die gedruckt werden können, endlich ist, wie in jeder europäischen Sprache.
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Sprecher:
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Wie Turing weiter bemerkt, benutzt der Mensch zum Fortführen einer Rechnung lediglich das, was er bereits auf dem Papier notiert hat und wendet dazu die Rechenregel an, die er in der jeweiligen Situation für passend hält. Aus der Formalisierung allein dieser wenigen Prinzipien ergibt sich das, was wir heute als Turing-Maschine bezeichnen. Dieses Konzept sollte tiefgreifende Auswirkungen auf die Mathematik und die Computertechnik haben. Alle späteren Computer werden Turings Universalmaschine technisch umsetzen.
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Sprecherin:
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Turing schrieb seine wissenschaftliche Arbeit gerade zu der Zeit, als ein gewisser Dr. Scherbius seinen Verschlüsselungsapparat Enigma der deutschen Wehrmacht verkaufte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkte Turing:
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Turing:
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Den Ruhm nehme mir keiner, daß meine Maschine nicht ein rein abstraktes Gebilde geblieben sei, sondern in funktionierende Hardware umgesetzt werden konnte genau zu dem Zeitpunkt, als diese Umsetzung kriegsentscheidend wurde.
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[MUSIK: Michael Nyman
Memorial, stehenlassen und im nächsten Absatz ausblenden.]
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Zweite Szene: Bletchley Park
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Sprecher:
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Das alte Gutshaus Bletchley Park war im Dreieck London-Cambridge-Oxford gelegen. Am 4. September 1939 meldete sich Alan Turing bei der dortigen
Government Code and Cypher School. Das hier gestartete Regierungsprojekt, welches strategisch höchst bedeutungsvoll war, hieß
Ultra. In einem Haupt- und 30 Nebengebäuden waren zeitweise mehr als 4000 Frauen und über 700 Männer beschäftigt.
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Sprecherin:
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Polnische Geheimdienstler hatten den Deutschen ihre Chiffriermaschine Enigma entwendet. Das war 1930, und sie stahlen das Gerät direkt aus der herstellenden Fabrik in Berlin. Wenige Monate später war der polnische Oberst Guido Langer und sein Team von Mathematikern mit der Entschlüsselung bereits auf gutem Wege. Aufgrund der Eroberung Warschaus mußten sie jedoch fliehen. Mit Hilfe der Franzosen entkamen einige der Wissenschaftler und landeten schließlich in Bletchley Park.
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Sprecher:
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Turing schätzte später, daß die polnische Vorarbeit in Warschau ihn den Code der deutschen Luftwaffe sieben Monate früher knacken ließ. Das war gerade noch rechtzeitig zum Beginn von Görings Bomberoffensive. Turing bemerkte, nachdem er erste Erfolge beim Entschlüsseln der deutschen Nachrichten erzielt hatte:
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Turing:
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Laßt sie uns nicht Enigma nennen, rätselhaft ist sie ja nicht mehr - sondern Nemesis: Göttin der Rache. Denn so wie die Deutschen jetzt das arme Polen notzüchtigen - das können wir ihnen nur heimzahlen, weil uns die Polen die Enigma herüberbrachten. Genau wie 1914:
ex oriente lux!
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Sprecherin:
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Die kleine Gruppe Mathematiker um Turing hatte also den Schlüssel zur Enigma gefunden. Premierminister Churchill war sich der Bedeutung dieser Arbeit durchaus bewußt. Er fragte Turing bei einem Besuch in Bletchley Park 1941, wie er denn seine neue Apparatur nennen würde. Turing antwortete:
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Turing:
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Da ist noch kein Name, Premierminister - lateinisch
computare heißt rechnen. Computer? Vielleicht könnte man Computer sagen?
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Sprecherin:
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Da die polnischen Geheimdienstler als Pioniere bei der Entschlüsselung vorangegangen waren, bezeichnete Turing seine 1940 fertiggestellte Dechiffriermaschine allerdings meist mit dem polnischen Wort
Bomba. In Bletchley Park gab es 1941 vier dieser Apparate. Ende 1942 waren es bereits 49. Sie befanden sich auf dem Gelände verstreut, damit im Falle eines Angriffes nicht alle gleichzeitig verloren gingen.
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Sprecher:
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Turing konzipierte in dieser Zeit auch einen leistungsfähigen Röhren-Computer, der bereits ein Programm in seinem Speicher halten konnte. 1944 wurde der erste, wegen seines Gewichtes
Colossus getaufte Rechner in Betrieb genommen. Sowohl dieses als auch alle später gebauten Geräte wurden 1946 aus Geheimhaltungsgründen demontiert.
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Sprecherin:
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Alan Turing blieb insgesamt fünf Jahre in Bletchley Park. Ihm war bereits frühzeitig klar, daß seine kriegswichtige Arbeit aufgrund der Geheimhaltungspflicht des
Official Secrets Act auch nach dem Krieg nicht öffentlich gewürdigt werden würde.
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Turing:
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Es wird uns niemals gegeben haben, sollte England diesen Kampf bestehen. Denn welcher General will sich schon nachsagen lassen, nicht sein Genie - sondern unser Aushorchen deutscher Geheimnisse habe die Schlacht entschieden!
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Sprecherin:
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Turings Verdienste im Zweiten Weltkrieg wogen mindestens ebenso schwer wie diejenigen der britischen Feldmarschälle. Es war ihm gelungen, die Geheimnisse der deutschen Chiffriermaschine zu ergründen. Der gesamte Funkverkehr der Wehrmacht konnte dadurch im Echtzeitbetrieb entziffert werden. Aber auch dieser Erfolg sollte den Mathematikern nicht zum Ruhm gereichen. Ronald Lewin, ebenfalls in Bletchley Park angestellt, sagte sarkastisch bereits vor Ende des Krieges:
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Zitator:
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Daß so ein Admiral mit dem Genie Turing niemals auch nur redet .. Nach dem Siege werden sie ihn totschweigen, wenn sie ihn nicht totmachen als Person. Jeder haßt den bekanntlich, dem er etwas verdankt. Da schon die Rettung bei Dünkirchen Turings rechtzeitiger Enigma-Entschlüsselung zu verdanken ist, wäre Hitler vermutlich die Invasion Englands geglückt, gäbe es unseren Melancholikus nicht!
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Sprecherin:
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Nach dem Zweiten Weltkrieg sagte Irving John Good, einer der Statistiker in Turings Team:
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Zitator:
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Ich behaupte nicht, daß wir durch Turings Beitrag den Krieg gewonnen haben, aber ich wage zu behaupten, daß wir ihn ohne ihn vielleicht verloren hätten.
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Sprecher:
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Die Automatisierung der Mathematik entschied also einen Krieg, der ohne die Rechenmaschinen sehr viel länger hätte dauern können. Turings Beweis von 1936, der Absicht nach nur die Lösung eines mathematisch abstrakten Entscheidungsproblems, löste in den Worten seines Biographen Andrew Hodges:
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Zitator:
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...zugleich das Entscheidungsproblem der Welt.
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[Musik:
Salomes Tanz einblenden, stehenlassen und im nächsten Absatz ausblenden.]
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Dritte Szene: Das Genie
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Zitatorin:
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Ein Genie! Alan? Sie haben doch seine immer unbeschreiblich schmutzigen Fingernägel gesehen, und trägt er eigentlich auch im Institut einen Bindfaden anstelle eines Gürtels und kommt morgens angeradelt, ohne seine Pyjama-Jacke ausgezogen zu haben?
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Sprecher:
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So beschrieb ihn seine Mutter. Äußerlichkeiten maß Turing keinerlei Bedeutung bei. Bisweilen machte er sich sogar darüber lustig. Über einen Besuch in einem teuren Restaurant berichtet er in seinen Reisenotizen aus Italien:
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[Atmo: Italienisches Restaurant.]
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Turing:
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Ich hatte meinen Rock daheim gelassen, welche Majestätsbeleidigung. Bei den Kellnern hatte ich einen Schock mit Hirnlähmung ausgelöst, weil ich ohne Jackett eingetreten war. Endlich der Ober, in fließendem Englisch, ich könnte mir ein Leihjackett aussuchen. Für 5000 Lire war ich also endlich kein Prolet mehr.
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[Atmo etwas weiterlaufen lassen, dann ausblenden.]
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Sprecherin:
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Alan Turing wurde am 23. Juni 1912 geboren umd war der zweite Sohn britischer Eltern im indischen Kolonialdienst. Trotzdem kam er in England zur Welt und wurde auch dort erzogen. Beide Söhne gaben die Eltern kurz nach Alans Geburt in fremde Hände, denn der Vater Julius Turing vertrat die Ansicht, das indische Klima lasse die Aufzucht europäischer Kinder nicht zu. Seine Mutter Ethel berichtet, daß sich Alans außerordentliche Gaben bereits früh erkennen ließen:
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Zitatorin:
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Wir waren zum Urlaub in Frankreich, Alan sagte zu seinem älteren Bruder, ohne zu wissen, daß ihr Vater es hörte:
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Turing:
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Heute hole ich uns Honig!
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[Atmo: Bienengesumme, Wald.]
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Zitatorin:
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Als sein Bruder fragte, womit er den denn bezahlen wolle, sagte Alan, daß er ihn doch nicht beim Imker holen werde:
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Turing:
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Ich weiß jetzt, wo die Bienen den wilden Honig verstecken. Ich beobachte ihre Flugbahnen seit zwei Tagen - erst dachte ich, was für ein Wirrwarr. Aber dann sah ich, daß sich diese Flugbahnen häufig über einem ganz bestimmten Strauch in der Heide überschneiden.
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[Atmo aus.]
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Zitatorin:
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Und abends um sechs brachte er die Wabe - da war er sieben. Mein Mann hat mit Bestürzung gemerkt, daß Alan anders war, weil er fast exakt die Höhe von Hügeln und Bergen berechnen konnte, mit neun.
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Sprecherin:
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Auch als die Eltern nach ihrer Frühpensionierung den Wohnsitz nach Europa verlegten, blieben die Kinder in Internaten. Seine Mutter bemerkte zu Alans Schulwahl:
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Zitatorin:
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Sein Bruder John hat ihm den größten Dienst erwiesen, den er Alan leisten konnte. Er verhinderte, daß wir Eltern - Eltern sind dumm - Alan aufs gleiche College schickten, auf dem sein Bruder war. John sagte uns:
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Zitator:
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Hier geht es um Sprachen und Literatur, doch das langweilt Alan so unbeschreiblich, daß die ihn fertigmachen - er muß auf eine Schule, die Mathematik ernster nimmt als Englisch und Latein.
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Sprecherin:
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1926, mit 14 Jahren, kam Alan auf die Sherborne Internatsschule in Dorset. Er galt dort als zurückhaltender Schüler mit besonderer Begabung auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Seine Mutter berichtet, daß ihn aber auch Sprachen interessierten:
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Zitatorin:
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Er versuchte trotzdem deutsch zu lernen, war aber völlig unbegabt. Ich fragte Alan, warum er das lernen wolle? Um David Hilbert zu besuchen, war seine Antwort, denn interessante Leute, fand er, wohnten ausschließlich in Göttingen.
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Sprecher:
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In dieser Zeit entwarf Turing seine ersten technischen Konstruktionen. Mit elf Jahren schritt er bereits zum Entwurf einer primitiven Schreibmaschine. Das war im selben Jahr, in dem in Deutschland ein erstes Modell der Enigma entstand. Durch ein Buchgeschenk begann sich der junge Schüler zudem für die Kryptographie zu begeistern, seine Lehrer meinten jedoch, daß er..
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Zitator:
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..unter Vernachlässigung seiner elementaren Aufgaben meist höhere Mathematik betrieb.
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Sprecherin:
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Turing begann 1931, in Cambridge Mathematik zu studieren. Trotz seiner Begabung erreichte er nur Abschlüsse zweiter Ordnung, als er sein Examen ablegte. Dennoch erhielt er mit 22 Jahren ein Stipendium am King’s College. Seine Mutter machte sich jedoch große Sorgen um Alans Zukunft:
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Zitatorin:
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Was konnte man hoffen für einen Jungen, der zwar mit sieben alle sechsstelligen Seriennummern der Straßenlaternen auswendig wußte - sich aber einen Punkt auf den Daumen machen mußte, um sich zu merken, wo links und rechts ist!
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Sprecherin:
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Sein exzentrisches, manchmal ungepflegtes, bisweilen schroffes Auftreten sowie sein gefürchteter Sarkasmus hatten Alan den Spitznamen
Dirty eingebracht. Alltägliche Kleinigkeiten schienen ihn oft zu überfordern. Eine Kollegin erinnert sich:
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Zitatorin:
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Er war einer, der nur drei Minuten braucht, einen Brief zu schreiben - aber anderthalb Stunden, um ein Kuvert dafür zu suchen. Und dann abermals anderthalb Stunden, um den Brief wiederzufinden, den er aus der Hand legte, um ein Kuvert zu suchen.
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Sprecherin:
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1936 verließ Turing England und ging in die Vereinigten Staaten, um sich zwei Jahre lang in Princeton auf seine Graduierung vorzubereiten. Er erwarb dort seinen Doktortitel mit einer Arbeit über
Hypercomputation, in welcher er seine Turing-Maschine zu einer sogenannten Orakel-Maschine erweiterte. Er kehrte 1938 ans King's College zurück. Dort beschäftigte er sich mit seinen Ideen zur Unberechenbarkeit sowie auch mit Problemen aus Algebra und Zahlentheorie.
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Sprecher:
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Die prestigeträchtige Assistentenstelle in Princeton, die John von Neumann ihm anbot, lehnte er ab; lieber lernte er, mit Spulen und Relais, Bohrern und Lötkolben umzugehen. Turing war ein einfacher Mensch. Der Mathematiker wollte lieber selbstgebaute Technik und, wie er einmal in der Bell-Labs-Kantine laut verkündete, Elektronengehirne..
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Turing:
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..so mittelmäßig wie das des AT&T-Präsidenten.
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Sprecherin:
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Da ab 1939 bereits feststand, daß England in den Krieg eintreten würde, verließ Turing die Universität, um in Bletchley Park zu arbeiten. Die Arbeit dort hinterließ bei ihm keine allzu positive Einstellung gegenüber den militärischen Methoden. Er war von den Militärs aufgrund seiner Homosexualität eher widerstrebend eingestellt worden. Während des Krieges nutzte man jedoch seine außergewöhnlichen Fähigkeiten und sah daher über seine privaten Neigungen hinweg. Turing hatte an der Entschlüsselung der Enigma nicht aufgrund patriotischer Gefühle gearbeitet. Vielmehr faszinierte ihn die intellektuelle Herausforderung.
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Sprecher:
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Nach dem Ende des Krieges ging er an das National Physical Laboratory in Teddington und begann, am Entwurf für die Automatic Computing Engine zu arbeiten. Der Name der Maschine ist angelehnt an die Analytical Engine von Charles Babbage, dessen Werk Turing zeitlebens bewunderte. Der Prototyp des Rechners wurde 1950 fertiggestellt, Turing hatte jedoch das Projekt 1948 bereits verlassen, um an der Universität Manchester zu arbeiten.
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[MUSIK: Bach
Kunst der Fuge, während des Übergangs stehenlassen, im nächsten Absatz ausblenden.]
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Vierte Szene: Der Turingtest
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Sprecherin:
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Ab 1949 begann Turing, auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz zu forschen. Schon in den Anfangsjahren dieser von ihm wesentlich beeinflußten Disziplin stand vor allem das strategische Denken im Mittelpunkt des Interesses. Dabei ging es vor allem darum, mehr über die Intelligenz des Menschen herauszufinden. Wie wählt beispielsweise ein Schachspieler aus einer Unmenge von Alternativen einen ihm sinnvoll erscheinenden Zug aus? Turing bemerkte:
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Turing:
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Dieses Auswählen macht den Unterschied zwischen einem brillianten und einem törichten Denker, nicht den Unterschied zwischen einem folgerichtigen und einem trugschlüssigen.
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Sprecher:
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Den Grundstein zur Untersuchung von künstlicher Intelligenz hatte Turing mit seinem 1950 veröffentlichten Aufsatz
Computing Machinery and Intelligence gelegt. An den Anfang dieser richtungsweisenden Schrift stellte er die berühmt gewordene Frage:
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Turing:
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Können Maschinen denken?
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Sprecher:
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Wie Turing richtig erkannte, ist eine solche Frage jedoch in höchstem Maß subjektiv, denn..
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Turing:
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Das Ausmaß, in dem wir etwas als intelligentes Verhalten ansehen, hängt ebenso vom Zustand unseres eigenen Verstandes und unserer eigenen Geschultheit ab, wie von den Eigenschaften des Objektes auf dem Prüfstand.
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Sprecher:
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Als Alternative schlug Turing ein Imitationsspiel vor, bei dem es für eine Maschine darum geht, einen Menschen so gut wie möglich nachzuahmen. Bis heute stellt dieses Spiel, das Turingtest genannt wird, eine der wichtigsten Herausforderungen innerhalb der künstlichen Intelligenz dar. Die Aussagekraft dieses Tests ist jedoch nach wie vor heftig umstritten.
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[TURINGTEST starten.]
[MUSIK: Music for Mallets, Atmo: Tastaturklicken.]
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Sprecherin:
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Was also ist ein Turingtest?
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Zitator:
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Mit der Theorie ist es bei mir schlecht bestellt.
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Turing:
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Nun, so weit ich weiß, ist das eine Art Spiel, an dem drei Personen teilnehmen: ein Fragesteller, ein Mensch und ein Computer. Jeder der Mitspieler ist allein in einem Raum. Das Ziel des Fragestellers ist es, zu entscheiden, welcher der beiden Akteure der Mensch und welcher der Computer ist. Zu diesem Zweck darf er ihnen Fragen stellen.
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Sprecherin:
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Wird ein Computer denn solche Fragen überhaupt verstehen können?
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Turing:
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Warum denn nicht? Für eine denkende Maschine jedenfalls sollte das kein Problem sein. Und, stellen Sie sich vor, es gäbe kleine Bausteine, die, jedes für sich, einen winzigen Teil des Menschen nachahmen. Warum sollte man dann nicht aus diesen Einzelteilen eine denkende Maschine zusammenbauen können?
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Zitator:
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Hören Sie mir gut zu, denn ich wiederhole mich nicht gern. Aber mich regen Idioten auf, denen man zehnmal ein und dasselbe sagen muß. Ich hoffe, Sie gehören nicht dazu. In diesen Kisten befinden sich doch die vollendetsten Elektronengehirne, die es jemals gab!
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Sprecherin:
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Wie also können sich Maschinen intelligent verhalten?
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Turing:
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Normalerweise wird angenommen, daß dies schlichtweg nicht möglich ist. Man redet doch auch beispielsweise von »rein mechanischem Verhalten«. Nun, vielleicht mögen wir einfach den Gedanken nicht, daß der Mensch in seinen geistigen Fähigkeiten Konkurrenz bekommen könnte. Besonders Intellektuelle haben da schließlich viel zu verlieren..
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Zitator:
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Genauso wie der Mensch erkennt der Computer seine Welt vermittels getrennter Sinneseingänge, und erst sein elektrisches Gehirn fügt all die Eindrücke zu einer Einheit zusammen. Aber das sind unwesentliche technische Einzelheiten. Lesen Sie die Philosophen und Sie werden erkennen, wie wenig man sich auf unsere Sinneseindrücke verlassen kann; wie unzuverlässig, wie trügerisch, wie leicht irrezuführen sie sind. Ebenso ergeht es den Computern.
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Sprecherin:
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Nehmen wir nun an, ein Computer würde denken und hätte Bewußtsein. Müßte er dann nicht erkennen können, daß er selbst eine Maschine ist?
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Zitator:
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Stellen Sie sich nicht dumm. Sie setzen sich doch auch aus Atomen zusammen. Fühlen sie etwa ihre Atome?
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Turing:
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Wer weiß. Allerdings kann eine wirklich intelligente Maschine nicht zugleich unfehlbar sein. Das folgt ganz einfach aus dem Unvollständigkeitssatz von Gödel. Dieser Satz sagt jedoch nichts darüber aus, wie intelligent eine Maschine sein könnte, der es erlaubt ist, sich zu irren.
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Sprecherin:
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Denken Sie, daß Menschen irgendwann Geräte erschaffen werden, die sie selbst übertreffen?
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Zitator:
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Das ist ihr Schicksal.
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Turing:
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Man kann eine Maschine nicht so programmieren, daß sie besser spielt, als man selbst. Kein Tier kann ein Tier verschlingen, das schwerer ist, als es selbst.
Beide Aussagen sind, soweit ich weiß, falsch.
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Sprecherin:
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Glauben Sie eigentlich, daß ich ein Mensch bin?
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Zitator:
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Davon könnten Sie mich wohl nicht endgültig überzeugen.
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Turing:
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Ja, denn warum sollte eine Maschine wohl derartige Fragen stellen.
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[TURINGTEST ENDE.]
[Musik und Atmo langsam ausblenden. Kleine Pause.]
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Sprecher:
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Bis heute werden zahlreiche Einwände gegen den Turingtest vorgebracht. Dabei wird argumentiert, daß der Computer Emotionen nur unvollständig imitieren könne. Diese seien bei menschlicher Kommunikation jedoch gerade wesentlich.
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Sprecherin:
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Ein zweiter Einwand gegen den Turingtest ist theologischer Natur. Es wird angenommen, daß ein Rechner seelenlos ist. Und einem Objekt ohne Seele könne man keine Intelligenz zubilligen.
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Sprecher:
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Ein dritter Einwand betrifft das fehlende Bewußtsein eines Computers. Denken setzt aber gerade dieses Bewußtsein voraus.
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Sprecherin:
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Der Visionär Turing hielt diese Einwände für induktive Fehlschlüsse. Er war der Überzeugung, daß eine denkende Maschine prinzipiell möglich ist. Er nahm an, daß seine Zeitgenossen ihre Meinung ändern würden, sobald es Rechner gäbe, die sie beispielsweise im Schach schlagen würden. Er schreibt:
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Turing:
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Die ursprüngliche Frage »Können Maschinen denken?« halte ich für zu bedeutungslos, als daß sie ernsthaft diskutiert werden sollte. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß am Ende dieses Jahrhunderts der Sprachgebrauch und die allgemeine gebildete Meinung sich so stark gewandelt haben werden, daß man von denkenden Maschinen reden kann, ohne mit Widerspruch rechnen zu müssen.
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Sprecher:
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Turing rechnete mit ernstzunehmenden Beispielen von Maschinenintelligenz etwa um die Jahrtausendwende. Er spekulierte:
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Turing:
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Meiner Meinung nach wird es in ca. 50 Jahren möglich sein, Rechenmaschinen zu programmieren, die das Imitationsspiel so vollendet spielen, daß die Chancen für einen durchschnittlichen Fragesteller, nach einer fünfminütigen Fragezeit die richtige Identifizierung herauszufinden, nicht höher als sieben zu zehn stehen.
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Sprecher:
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Und tatsächlich: Es gab zur Jahrtausendwende am Computer Museum in Boston die ersten Programme, die Menschen über ihre Maschinenhaftigkeit täuschten. Etwa in diese Zeit fällt auch der Sieg von
Deep Blue gegen den amtierenden Schach-Weltmeister. Aber Turing erhoffte noch mehr:
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Turing:
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Der Automat, der Empfindungen, Form und Wörter entwickelt, um sogar ein Gedicht zu schreiben: ich bin überzeugt, er wird eines Tages existieren.
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[MUSIK:
Miserere Paraphrase in den Turing-Sprecher hineinblenden.]
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Fünfte Szene: Chemische Experimente
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Sprecherin:
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Seit 1948 lehrte Turing an der Universität in Manchester. Bis zu dem Jahr 1952 hatte er das typische Leben eines Gelehrten geführt. Er war als Akademiker erfolgreich und lebte in einem toleranten Milieu. Innerhalb der Universität war seine Homosexualität weitgehend respektiert, er mußte sich nicht verstecken und knüpfte eine Reihe von Beziehungen. Obgleich seine Verdienste im Krieg aufgrund der Geheimhaltung nicht gewürdigt wurden, war Turing ein geachteter Mathematiker. 1951 wurde er Mitglied der britischen Royal Society. Sein Leben verlief in geordneten Bahnen, bis es zu einem Diebstahl in seiner Wohnung kam. Eine enge Freundin erinnert sich so:
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Zitatorin:
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Alan ging zur Polizei, weil ihm ein Hemd, einige Fischmesser, eine Hose, ein Kompaß und ein Rasierapparat gestohlen worden waren. Es hat seinen Bruder, den Anwalt, unglaublich entsetzt, daß Alan wegen nichts zur Polizei gegangen war. Da ja Alan auch viel zu stolz zum Lügen war, hat die Polizei dann in Minutenschnelle schon gewußt, warum denn ein Knabe angeblich der Dieb war.
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Sprecherin:
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Aber nicht der Dieb kam ins Gefängnis, sondern der Bestohlene. Die Polizisten zeigten ihn wegen “grober Sittenlosigkeit und Unzucht” an. Doch Turing wehrte sich. Er schrieb einen fünfseitigen Brief, den er den Polizisten mitgab. Dieser sollte ihm jedoch später vor Gericht, wo sein Bruder ihn verteidigte, enorm schaden. Der Staatsanwalt legte ihm den Brief als Schuldbekenntnis aus. Turings Freundin hingegen sah ihn als radikales, provokatives Bekenntnis für die Freiheit des Individuums. Sie bemerkte:
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Zitatorin:
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Alan hatte vielmehr die Souveränität, einer von Heuchelei entstellten Gesellschaft zu sagen, sie sei entstellt, ihr das zu schreiben, obgleich er natürlich wußte, dafür komme er ins Gefängnis!
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Sprecherin:
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Turing stritt seine Homosexualität auch vor Gericht nicht ab. Er wurde am Ende des Prozesses vom Richter vor die Wahl gestellt, zwei Jahre ins Gefängnis zu gehen oder sich einer Hormonbehandlung als chemische Kastration zu unterziehen. Eine derart harte juristische Sanktion war in den 50er Jahren in England bei einer Verurteilung wegen “grob unsittlicher Handlungen” nicht ungewöhnlich. Turing wählte das chemische Experiment. Man kann sich nur schwer vorstellen, was dies für ihn bedeutet haben muß. Er selbst sagte über die Behandlung:
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Turing:
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Sie soll, während sie läuft, den Sexualtrieb reduzieren, aber wenn sie vorüber ist, soll man wieder zum Normalen zurückkehren. Ich hoffe, sie haben recht.
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Sprecherin:
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Zunächst bekam er die Hormone in Pillenform, später ein Implantat. Das in seinen Oberschenkel eingesetzte Präparat beseitigte Turing noch vor Ablauf eines Jahres. Er litt in dieser Zeit an Depressionen und starken Stimmungsschwankungen.
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Sprecher:
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Fortan galt Turing den Militärs als Sicherheitsrisiko. Seine Kollegen und Freunde hielten ihm jedoch die Treue und er besaß weiterhin seinen Lehrstuhl in Manchester. Selbst die Presse hielt sich zurück. Dennoch war der Prozeß eine öffentliche Demütigung, die er nie verwand.
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[Kleine Pause.]
[TURINGTEST 2 mit Musik und Atmo Tastaturklicken wieder starten.]
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Sprecherin 2:
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Wer also war Alan Turing?
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Zitator:
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Er war ein britischer Mathematiker, Kryptoanalytiker, Philosoph und einer der Urväter des Computers. Er begründete die Berechenbarkeitstheorie und hatte wesentlichen Einfluß auf das Gebiet der künstlichen Intelligenz. Seine weiteren Forschungsgebiete waren Logik, Wahrscheinlichkeitstheorie, Quantenmechanik und Biologie.
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Turing:
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Er war ein Einzelgänger mit leuchtendblauen, tiefliegenden Augen und breitem Lachen - introvertiert, lebhaft und wißbegierig. Er spielte leidlich Geige und war leidenschaftlicher Marathonläufer. Und er konnte mit großer Begabung Leute parodieren.
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[TURINGTEST 2 ENDE, Musik und Atmo ENDE.]
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Sprecher:
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Unmittelbar vor seinem 42. Geburtstag, am 7. Juni 1954, starb Turing an einer Vergiftung. Seine Putzfrau fand ihn am Tag darauf. Er hatte einige Bissen von einem mit Zyankali gespritzten Apfel gegessen. Als Todesursache wurde von offizieller Seite Selbstmord angegeben. Der Untersuchungsbericht ergab, daß er sich das Gift selbst verabreicht habe..
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Zitator:
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..während sein seelisches Gleichgewicht gestört war.
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Sprecher:
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Die Umstände seines Todes sind umstritten, denn ein Abschiedbrief wurde nie gefunden. Unter seinen Biographen ist die Annahme verbreitet, die Hormontherapie und die damit einhergehenden Depressionen könnten Ursachen für einen Selbstmord gewesen sein. Auch seine persönliche Isolation nach der Verurteilung gilt als möglicher Grund.
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Sprecherin:
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Seine Mutter blieb stets überzeugt, daß es ein Unfall war. Sie schilderte Turings Tod als eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände, zurückzuführen auf die Sorglosigkeit ihres Sohnes im Umgang mit Chemikalien. Sie berichtete zudem von einer Zusage Turings, in Kürze eine Rede vor der Royal Society zu halten.
Auf seinem Tisch lagen Theaterkarten, die er gekauft hatte.
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[MUSIK: Bach
Fuge dis-moll einblenden.]
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[Musik Ende.]
[Abspann.]
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